Auf der Jagd nach Lehrinnovationen

Unterricht nach dem Flipped Classroom Konzept bedeutet, dass sich Studierende anhand von zumeist digitalen Lernmaterialien wie Skripts und Videos auf den Präsenzunterricht vorbereiten, wobei sich der Präsenzunterricht dann auf den Austausch mit Mitstudierenden und Lehrpersonen fokussiert (z.B. Gruppen- und Projektarbeiten, Fallarbeit, Probleme lösen, Fragerunden). Das "Flippen" illustriert den Vorgang, bei dem der theorie- und wissensvermittelnde Anteil des Präsenzunterrichts ins Selbststudium "gedreht" wird. Studierende können somit im Präsenzunterricht sofort mit der Anwendung des Wissens durch die Bearbeitung von entsprechenden Aufgabenstellungen beginnen [1]. Das Unterrichtskonzept des umgedrehten Klassenraums ist nicht neu und entspringt aus der Kritik an der statischen Lehrform von traditionellen Vorlesungen. Eric Mazur (Harvard) hat in den 1990er Jahren mit Peer Instruction [2] eine Methode entwickelt, die verdeutlicht, wie viel Studierende voneinander lernen können. Flipped Classroom erfordert von Studierenden ein höheres Mass an Eigenverantwortung und Selbststeuerung im Lernprozess. Auch die Rolle der Dozierenden ändert sich durch das didaktische Konzept, da einerseits der Entwicklung von geeigneten Materialien für das Selbststudium, andererseits der Betreuung der Studierenden in Gruppen- und Projektarbeiten im Unterricht als Lerncoach, eine grosse Bedeutung zukommt. Die grosse Herausforderung besteht daher in der adäquaten Produktion der Onlinematerialien und der sorgfältigen Vorbereitung der Aktivitäten für die Präsenzphase.

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Flipped Classroom Session, Foto: Stanford EdTech @flickr, no changes, CC by-nc-nd 2.0

Auch wenn das Flipped Classroom Konzept nicht neu ist, hat es erst mit der Digitalisierung und Flexibilisierung des Hochschulunterrichts neuen Aufwind erhalten. Verantwortlich für diese Entwicklung sind insbesondere der Hype um "Massive Open Online Courses" (MOOCs). Weiter gab es einen Bedeutungszuwachs von offenen und kostenpflichtigen Onlinekursen zum Selbststudium sowie eine massive Verbreitung von Videos auch im Bildungsbereich, insbesondere über mobile Geräte. Ein grosses Potenzial von Flipped Classroom liegt darin, dass Dozierende im direkten Austausch mit den Studierenden durch gezielte Lernaktivitäten und durch Nachfragen verbreitete Fehlkonzepte und Denkfehler besser entdecken können. Der lernförderliche Dialog mit den Studierenden ist intensiver und Studierende können in verschiedensten Lernszenarien den Wissenstransfer von der Theorie in die Praxis umsetzen [3]. Flipped Classroom fördert damit den Kompetenzerwerb der Studierenden in Bezug auf fachliche, aber auch soziale und andere nicht-fachliche Kompetenzen.

 

Die ETH hat in einer zweijährigen Pilotphase (2012-2014) vielfältige videobasierte Onlinekursformate in Kombination mit Lehrveranstaltungen erprobt [4]. Dozierende, die damit den Unterricht" "gedreht" haben, berichten einstimmig, dass ihnen der intensivere Austausch mit den Studierenden mehr Spass bereitet, da sie die Lernfortschritte selbst erleben und direkt beeinflussen können. Studierende begrüssen das Konzept ebenfalls, kritisieren aber teilweise die Form der Umsetzung. Der Aufwand zum vollständigen "Drehen" einer Lehrveranstaltung ist für Dozierende und Studierende gross und wurde von allen Projektbeteiligten der Pilotphase unterschätzt. Insbesondere kann die Produktion von eigenen Videomaterial viele Ressourcen in Anspruch nehmen, die dann bei der Entwicklung von Lernszenarien für den Präsenzunterricht fehlen [5]. Es ist daher ratsam, zunächst nur Teile des Unterrichts zu "drehen" und dann iterativ vorzugehen, um das Konzept auf die gesamte Lehrveranstaltung auszuweiten.

 

Die Umsetzung eines Flipped Classrooms ist ein anspruchsvolles Projekt für Dozierende und Studierende, das erst dann effektiv ist, wenn auch ein "Flipped Learning" ermöglicht wird:

"Flipped learning is a pedagogical approach in which direct instruction moves

from the group learning space to the individual learning space, and the resulting group space is transformed into a dynamic, interactive learning environment where the educator guides students as they apply concepts and engage creatively in the subject matter." [6]

 

Hierfür sind Räume mit flexiblem Mobiliar notwendig, die den interaktiven Präsenzphasen beispielsweise mit Gruppentischen und abtrennbaren Gruppenarbeitsbereichen besser Rechnung tragen. An der ETH wurden erste sehr gute Erfahrungen mit einem flexiblen Auditorium (HG E41) gemacht. Diese Erfahrungen ermuntern weiter in diese Richtung zu investieren. In der Zwischenzeit kann aber auch in einer klassischen Sitzordnung flexibler gearbeitet werden, indem zum Beispiel Studierende zu zwei oder zu dritt zu diskutieren beginnen. Ein solcher Unterricht erfordert von Lehrenden einen Rollenwechsel (weniger Wissensvermittlung, mehr Begleitung) und ein erweitertes Methodenrepertoire, um den Präsenzunterricht optimal gestalten zu können.

Für die ETH als Präsenzuniversität kann das Konzept Flipped Classroom ein zentraler Wegweiser für künftige Investitionen in die Lehre sein. Es legt viel Wert auf die Qualität des Präsenzunterrichts, indem die Zeit möglichst für den Austausch zwischen Studierenden und Forschenden resp. Lehrenden und für die Anwendung von Wissen verwendet wird. Weiter nutzt das Konzept die Vorteile der Digitalisierung und Flexibilisierung der Wissensvermittlung und ermöglicht kompetenzorientierte Lehre. Sie ist zentral für eine wissenschaftliche und berufliche Karriere der Studierenden.

 

Quellen

[1] Hussey, H. D., Fleck, B. K., & Richmond, A. S. (2014). Promoting Active Learning through a Flipped Course Design. In J. Keengwe, G. Onchwari, & J. Oigara (Eds.) Promoting Active Learning through the Flipped Classroom Model (pp. 23-46). Hershey, PA: . doi:10.4018/978-1-4666-4987-3.ch002

[2] Mazur, E. (1997). Peer Instruction. A User's Manual. Upper Saddle River, NJ: Prentice Hall.

[3] Educause (2012). 7 Things You Should Know About Flipped Classrooms. Online-Ressource: http://www.educause.edu/library/resources/7-things-you-should-know-about-flipped-classrooms

[4] ETH – LET (2013). TORQUEs: A turning point for teaching, Online verfügbar: http://www.let.ethz.ch/projekte/

[5] Weidlich, J. & Spannagel, C. (2014). Die Vorbereitungsphase im Flipped Classroom. Vorlesungsvideos versus Aufgaben. Münster: Waxmann. Online-Ressource: http://2014.gmw-online.de/wp-content/uploads/237.pdf

[6] Flipped Learning Network (2014). Definition of Flipped Learning. Online-Ressource: http://flippedlearning.org/domain/46


1 Comment to “Flipped Classroom – Mehr Gestaltungsraum für die Präsenzlehre”

  1. Im Herbst 2012 habe ich meine Vorlesung im Fach “Physik und Systemwissenschaft für Aviatik” an der ZHAW auf Flipped Classroom umgestellt. Die Studierenden können sich mit einem Skript (auf Systemphysik-Wiki), Videos (auf Youtube) oder einer alten Vorlesungsaufzeichnung (bei Switch) auf den Unterricht vorbereiten. Dieses Jahr habe ich neu einen promotionswirksamen Test eingeführt, den die Studierenden jede Woche zu Beginn des Plenums beantworten müssen. Diese kleine Massnahme hat eine grosse Wirkung und wird von den Studierenden grossmehrheitlich befürwortet.
    Video: https://www.youtube.com/watch?v=hiqaIamiA7M